“Das darf der aber nicht!” - “Ich hatte das zuerst!” - “Hauen darf man nicht!!”
Vielleicht hast du dich das auch schonmal gefragt: Wann wissen Kinder eigentlich, was gerecht und was nicht gerecht ist? Manchmal agieren Kinder untereinander so grausam, dass man an der Existenz von Dingen wie Moral und Gewissen wirklich zweifelt. Und in anderen Fällen scheinen Kinder die kleinen Richter untereinander zu sein: Sie bemerken schnell, wenn jemand ungerecht handelt oder etwas “falsches” tut und sagen dann schnell Bescheid. Eine grobe Vorstellung davon, was richtig und was falsch ist, haben Kinder tatsächlich bereits sehr früh. Doch wie genau entwickelt sich die Vorstellung von Moral und ein Rechts- und Unrechtsbewusstsein eigentlich wirklich? Wann können wir von Kindern erwarten, dass sie nachvollziehen können, warum etwas “gut” oder “böse” ist?
In diesem Beitrag möchte ich dir zeigen, wie Kinder Moral und ein Gerechtigkeitsempfinden entwickeln und wie du sie dabei aktiv unterstützen kannst.
Wie Moral und Gerechtigkeitsbewusstsein erforscht werden
Bestimmt ist dir schon einmal aufgefallen, dass schon 2-3-Jährige trösten, wenn ein anderes Kind sich weh getan oder ihm etwas weggenommen wurde. Doch ist da schon echtes Bewusstsein über Recht und Unrecht, über Gewissen und Moral vorhanden?
Wissenschaftler haben versucht, mithilfe von Interviews und Beobachtungen von Konfliktsituationen herauszufinden, wie Kinder über “richtig” und “falsch” urteilen (z.B. Weyers, 2007).
Grundsätzlich entwickeln Kinder durch Aushandlung mit anderen Kindern und durch Beobachtung ihres sozialen Umfelds ein implizites Wissen über Rechtsgrundlagen. Je jünger die Kinder sind, desto mehr haben sie eine Art eigenes Rechtssystem mit eigenen Normen und z.B. Regeln wie der “prior-property-rule” (“Der hat das zuerst gehabt!”). Je älter sie werden, desto mehr verinnerlichen sie das Verständnis über “allgemeingültige” Regelungen. Mit etwa 4 Jahren wissen die meisten Kinder, dass man nichts klauen darf und entwickeln so langsam die Fähigkeit, sich vorstellen zu können, was andere Menschen denken und fühlen. Sie beginnen mit dieser Fähigkeit zu experimentieren und verstecken z.B. Dinge, die ihre Eltern nicht finden sollen.
Moral und geltendes Recht kann sich unterscheiden!
Doch erst im Grundschulalter können Kinder Moral und Recht voneinander unterscheiden: Ein Forschungsteam (Turiel, 1983) hat Kinder hierzu im Grundschulalter zu konventionellen und moralischen Normen befragt:
- Wäre es in Ordnung, Erwachsene mit Vornamen anzusprechen, wenn das Gesetz es erlaubt?
- Und wäre es in Ordnung, ein anderes Kind zu hauen, wenn das Gesetz es erlaubt?
Das Forschungsteam fragte: „Stell dir vor, da gibt es eine Familie/eine Schule/ein Land – da erlaubt das Gesetz, dass man Erwachsene mit Vornamen anspricht/ein anderes Kind schlägt. Ist es richtig, wenn man das dann tut?”
Als Ergebnis der Studie konnte gezeigt werden, dass die Kinder deutlich unterschieden:
- Die erwachsene Person mit Vornamen anzusprechen wäre okay,
- Jemanden zu schlagen jedoch nicht. Auch nicht, wenn das Gesetz es erlaubt.
Das zeigt, dass Kinder bereits früh zwischen “konventionellen Regeln”, die autoritativ gesetzt sind und moralischen Regeln, die “universell” gültig sind, unterscheiden können. Die Kinder haben bereits ein Verständnis von Moral.
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Nur weil etwas moralisch erwünscht ist, werden Kinder das nicht automatisch tun wollen
Nun heißt es leider nicht automatisch, dass Kinder auch nach diesen Regeln handeln “wollen”. Wenn du früher in der Schule geschummelt hast, dann war dir sicher auch bewusst, dass es verboten ist. Die Aussicht auf ein besseres Prüfungsergebnis hat es dich trotzdem tun lassen.
Die Frage ist also, wann wollen Kinder also ihr Verständnis von Moral, Recht und Unrecht auch anwenden? Grundsätzlich lässt es sich auf die einfache Formel bringen:
Kinder sind zu selbstlosen Handlungen fähig und bereit, wenn diese nicht mit ihren eigenen spontanen Bedürfnissen kollidieren.
Je jünger Kinder sind, desto mehr stehen die eigenen Bedürfnisse im Vordergrund. Wie oben gesagt, wissen 98% der Kinder bereits mit etwa 4 Jahren, dass man nicht stehlen darf. Spätestens mit 6 bis 8 Jahren können die meisten Kinder (zwischen 85 und 95 %) beurteilen, in welchen Situationen man teilen und helfen sollte. Das heißt also, dass sie “eine aus der Not und den Bedürfnissen anderer erwachsende Hilfeleistungspflicht” erkennen und ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellen.
Wann können Kinder wollen, was sie wollen?
Lass uns hierauf noch etwas tiefer eingehen. Wann können Kinder denn nun auch wirklich wollen, was sie wollen? Einfacher ausgedrückt heißt dies:
Ab wann befolgen Kinder Normen und Werte, weil sie es “wollen” und nicht nur, weil sie wissen, dass sie diese Regeln befolgen müssen?
Wir haben weiter oben schon gesehen, dass Kinder sicher im Vorschul- bzw. Grundschulalter moralisches Wissen und moralische Motivation entwickeln. Hier ist somit das “Wollen” schon vorhanden.
Sicher ist dir aber bei deinem Kind schon aufgefallen, dass es auch schon in jüngeren Jahren erkannt hat, dass wir vermeiden wollen, wenn andere Kinder weinen. Wieso trösten sie sie dann schon und streicheln sie zum Beispiel, wenn sie gehauen wurden?
Dazu gibt es verschiedene Deutungsmöglichkeiten: Die Bereitschaft, sich sozial und hilfsbereit zu verhalten ist höher bei Kindern, die das auch selbst erlebt haben. Es ist dann eher ein Nachahmen, freiwilliges Befolgen impliziter elterlicher Erwartungen, weil sie selber ebenfalls gute Erfahrungen damit gemacht haben. Dein Kind hat selbst erlebt, dass Streicheln, Trost und Geborgenheit nach Schmerz gut tut und repliziert dieses Verhalten. Dies ist quasi eine “Vorform der Gewissensbildung”.
Auch Babys können rudimentär zwischen gut und böse unterscheiden
Aber auch schon Babys können rudimentär zwischen “gut” und “böse” unterscheiden, wie zum Beispiel in diesem Experiment gezeigt wird. Dazu gab es ein Experiment, indem man 6-10 Monate alten Babys eine Szene mit einem Kreis gezeigt hat, der einen Berg erklimmen wollte.
In einer Szene kommt ein gelbes Dreieck und hilft dem Kreis nach oben. Oben hüpft der Kreis vor Freude.
In einer anderen Szene will der Kreis wieder nach oben und es kommt ein Quadrat vorbei. Das Quadrat schubst den Kreis immer wieder kurz vor dem Ziel runter.
Als die Forscher der Universität Yale den Babys die Figuren zum Spielen angeboten haben, griffen über 80% der Kinder zu der hilfsbereiten Figur, dem gelben Dreieck.
Auch andere Studien zeigen, dass feinfühliges, elterliches Verhalten einen Einfluss auf die kindliche Moralentwicklung und Kooperationsbereitschaft hat und so das Fundament für das Gerechtigkeitsbewusstsein legt.
Im Vorschulalter können die meisten Kinder auch mit moralischer Motivation handeln
Was ist nun der entscheidende Entwicklungsschritt im Grundschulalter, der zum “moralisch Handeln wollen” deines Kindes führt?
Im Alter von 4 bis 5 Jahren lernt dein Kind die eigenen Impulse aus der Distanz heraus zu betrachten. Das heißt, es beginnt zu lernen, das eigene Handeln und die Folgen von außen zu reflektieren. Das ist der Schlüssel, damit dein Kind selbst bestimmen kann, was es tun möchte. Es weiß um die gesellschaftlichen Normen Bescheid und könnte dann auch im Sinne der allgemeinen Moral entscheiden, danach zu handeln.
Aber Vorsicht: Das bedeutet trotzdem noch nicht, dass dein Kind dies auch im rein sozialen Sinne gegenüber anderen Menschen kann. Viele Kinder haben in dem Alter nämlich noch nicht schlussendlich verstanden, welche Gefühle ihre moralische Motivation und das daraus folgende Handeln, bei anderen auslösen könnte.
Erst im Alter zwischen 8 und 10 Jahren ist dein Kind in der Lage:
- Regeln zu kennen,
- nach diesen zu leben
- und zu erkennen, dass Menschen unterschiedliche Standpunkte zu einer Handlung haben können.
5 Impulse, um das Gerechtigkeitsbewusstsein deines Kindes zu fördern:
Du kannst die Entwicklung des Normen und Wertesystems deines Kindes aktiv unterstützen. Letztlich basiert es maßgeblich auf Erfahrungen mit der Familie, dem Umfeld und mit Freunden.
Es ist dabei ganz wesentlich, dass du Dinge wie Empathie, also Einfühlungsvermögen, Fähigkeiten zur Problemlösung und Handlungsplanungen im Alltag spielerisch und in Gesprächen förderst. Ich möchte dir hierzu 5 Tipps für deinen Alltag mitgeben.
Tipp 1: Moralisches Wissen nicht überschätzen
Wir neigen leider manchmal zur Überschätzung von Kindern: Du musst verstehen, dass Kinder manche moralischen Gedanken zwar nachvollziehen können, aber das nicht unbedingt heißt, dass sie auch danach leben können.
Tipp 2: Ins Gespräch kommen
Du kannst mit deinem Kind immer wieder Gesprächsanlässe aufgreifen, indem du geltende Werte und Normen besprichst und hinterfragst. Wenn z.B. dein Kind “petzt”, dass jemand gehauen hat, dann ermahne es nicht, dass man nicht “petzen darf”. Sondern kommt darüber ins Gespräch, was der Mensch alternativ hätte tun können. Auch Bücher oder Rollenspiele eignen sich wunderbar, um über moralische Werte und Normen ins Gespräch zu kommen.
Tipp 3: Lebe deinem Kind das Verhalten vor, was du dir wünschst
Auf der einen Seite zuckersüß mit jemandem sprechen, um kurz danach über diese Person zu lästern: Merkste selbst, oder?
Tipp 4: Feinfühlige, einfühlsame Begleitung schon von Beginn an
Wenn Kinder merken, dass ihre Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse Gehör finden, werden sie auch bereiter sein, auf die Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse des anderen Menschen einzugehen.
Tipp 5: Verhandelt im Familienleben Regeln und Strukturen
Die Regeln sollten grundsätzlich gelten, aber können in der Verhandlung auch mal fließend sein. Bleibt kompromissbereit miteinander und bleibt darüber im Gespräch.
Das Thema der Moral- und Gewissensentwicklung ist unheimlich komplex. Ich hoffe, ich konnte dir einen kleinen Einblick vermitteln. Wenn du noch Fragen hast, melde dich gerne. Wenn du noch genauer nachlesen möchtest, habe ich hier einige Literaturempfehlungen, die ich auch für den Text genutzt habe: