Juli 19, 2020

Was passiert eigentlich im Gehirn während der Autonomieentwicklung?

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Ihr habt mich gebeten, etwas über die Autonomieentwicklung zu schreiben. Das ist ein Thema, das wirklich alle Eltern mehr oder weniger stark begleitet. Häufig gehen Hilflosigkeit, Erschöpfung und eigene Wut mit Wutanfällen einher. Du wünschst Dir vielleicht nichts sehnlicher, als dass diese Phase endlich überwunden ist. Den Zahn muss ich Dir leider ziehen, denn schwierige Gefühle begleiten uns ein Leben lang. Es wird immer wieder Phasen im Leben deines Kindes geben, wo es deine Unterstützung braucht, damit umzugehen. Doch wenn Du von Anfang an diese Gefühle feinfühlig begleitest, habt ihr gute Chancen, später davon eure Früchte zu ernten.

Ihr habt euch auch gewünscht, etwas über die Prozesse im Gehirn zu erfahren. Ich werde zwei Beiträge daraus machen, da das menschliche Gehirn und die Strukturen und Prozesse sehr komplex sind. Aber ich verspreche Dir, dass ich die biologischen und physiologischen Vorgänge so alltagsnah wie möglich beschreibe. Ich bin zum Glück keine Neurologin, daher wird vieles sehr vereinfacht sein. Im nächsten Beitrag kommen dann die pädagogische Haltung und die Maßnahmen, die darauf aufbauen. Du darfst also weiterhin dranbleiben!

Unser Gehirn arbeitet wie ein Symphonieorchester

Unser Gehirn vollbringt täglich, zu jeder Stunde, Minute und Sekunde wahre Meisterleistungen. Es arbeitet wie ein Symphonieorchester und kein Teil des Gehirns ist allein für irgendetwas verantwortlich. Das Gehirn ist zu jeder Sekunde damit beschäftigt, Informationen zu interpretieren, zu integrieren und darauf zu reagieren. Dabei sind alle Teile des Gehirns beteiligt. Alle Hirnstrukturen integrieren und verarbeiten Informationen grundsätzlich gemeinsam. Doch natürlich sind unterschiedliche Hirnstrukturen mehr oder weniger an Abläufen und Prozessen beteiligt.

Die Entstehung von Wutanfällen im Gehirn ist extrem komplex. Ich werde Dir zunächst vereinfacht einige Strukturen des Gehirns und anschließend die Funktionen, die bei Wutanfällen beteiligt sind, erklären.

Das Nervensystem des Menschen besteht aus zwei Teilen, die sich wiederum in mehrfach unterteilen lassen. Diese zwei Teile sind das Zentralnervensystem (ZNS) und das periphere Nervensystem (PNS). Ein Teil des peripheren Nervensystems ist das autonome Nervensystem. Das autonome Nervensystem überwacht alle Lebensfunktionen rund um die Uhr. Alles, was wir nicht bewusst kontrollieren oder steuern müssen, wird vom autonomen Nervensystem übernommen: Atmung, Verdauung, Erregungsniveau.

Autonomie_Gehirnstruktur

Quelle: Zimbardo (2008)

Die Krisenbeauftragte und der Hausmeister des Gehirns

Das autonome Nervensystem ist wiederum unterteilt und zwar in das sympathische und parasympathische Nervensystem. Die Teile des sympathischen und parasympathischen Nervensystems arbeiten gegensätzlich, um ihre lebenswichtigen Aufgaben zu erfüllen:

  • die Krisenbeauftragte, also zuständig für bedrohliche Situationen ist das sympathische Nervensystem. In Notsituationen aktiviert es die „Kampf- oder Flucht“-Funktion des Gehirns.
  • Die Atmung wird schneller, das Herz schlägt schneller.
  • Das parasympathische ist für die häuslichen Pflichten des Körpers verantwortlich, also sorgt dafür, dass im Hintergrund trotz Krisensituationen alles weiterläuft.

Starke Emotionen wie Furcht oder Ärger aktivieren also ein „Notfallreaktionssystem“ des Körpers. Dann beginnt das sympathische Nervensystem z.B. auch die Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin und Noradrenalin zu veranlassen. Diese Hormone sorgen für typische körperliche Reaktionen wie Schwitzen und Herzklopfen.

Wenn Dein Kind sich also ärgert, passieren sehr viele biologische Vorgänge im Körper. Stresshormone werden ausgeschüttet, das Herz fängt an zu klopfen und man fängt an zu schwitzen. Der ganze Körper ist auf Kampf oder Flucht ausgerichtet und es fällt schwer, rational zu denken. 

Im Zentralnervensystem erfolgt dann die Integration von hormonellen und neuronalen Aspekten der Erregung (z.B. des Ärgers).

Der Unterschied zwischen „Kontrolle“ und „Regulierung“ von Emotionen

Die Kontrolle emotionaler Zustände erfolgt im Wesentlichen im limbischen System, in der Amygdala und dem Hypothalamus. Die Amygdala („der Mandelkern“) ist für die emotionale Kontrolle und die Formung emotionaler Gedächtnisinhalte zuständig. Die Amygdala ist z.B. auch aktiv, wenn wir etwas riechen und uns daraufhin an eine ganz bestimmte Situation aus unserer Kindheit erinnern. Kontrolle bedeutet hier zu erkennen, welche Emotion gerade eintritt. Ist es Wut? Ist es Trauer?

Wenn Du also deine eigenen Gefühle und die deines Kindes von Anfang an benennst, lernt dein Kind sich selbst besser kennen. Es lernt seine Gefühle zu interpretieren und kann sich so viel besser mitteilen, warum es gerade wütend ist, oder was das gerade ausgelöst hat. „Ich sehe, du bist sehr wütend. Bist Du wütend, weil der Keks durchgebrochen ist?“

Unsere innere Waage

Unser inneres Gleichgewicht obliegt dem Hypothalamus. Er ist die kleinste Struktur des Gehirns und dabei so wichtig! Er erhält das innere Gleichgewicht des Körpers. Das bedeutet, dass er Hunger, Durst, Temperaturempfinden und sexuelle Erregung reguliert. Wenn der Hypothalamus also aktiv ist, kann man an nichts anderes mehr denken, als das, was er verlangt!

Das erklärt uns doch schon einmal, warum ein Bedürfnisaufschub für kleine Kinder oder uns Menschen generell so schwierig ist! Wie soll man sich auf irgendetwas anderes einlassen können, wenn der Hypothalamus in einer Tour „HUUUNGER!“ schreit?!

Das Großhirn ist für die Regulierung kognitiver und emotionaler Funktionen zuständig. Der sogenannte cerebrale Kortex stellt Gedächtnisinhalte bereit, die psychische Erfahrungen und biologische Reaktionen miteinander kombinieren und in sich integrieren.

Das heißt im Klartext:

Ich kann üben, körperlich bewusster auf gewisse Situationen zu reagieren! Ich spüre bei herausfordernden Situationen selbst in mich hinein, was gerade passiert. Wenn ich eine Präsentation halte, spüre ich, wie mein Herz schneller beginnt zu klopfen. Allein das Wahrnehmen dieses körperlichen Vorgangs hilft häufig schon dabei, mich dabei besser zu regulieren.

Du hast es fast geschafft und Dich durch dieses komplexe Wissen gearbeitet! Denn mit diesem Wissen kommen wir zu einer wichtigen psychologischen Theorie. Diese Theorie gibt uns Anhaltspunkte dafür, warum es sich lohnt, unser Kind bei Wutanfällen feinfühlig zu unterstützen.

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Die Emotionstheorie der kognitiven Bewertung

Es gibt mehrere Theorien zur Entstehung von Emotionen. Doch die, die heute am meisten verbreitet ist, ist die Theorie der kognitiven Bewertung (Lazarus, Schacher).

Danach tritt eine Emotion dann auf, wenn es einen gemeinsamen Effekt von physiologischer Erregung (also Herzschlag, Atmung, Schwitzen, …) und kognitiver Bewertung gibt (z.B. Ich treffe auf jemanden, mit dem ich bereits aneinandergeraten bin).

Eine Emotion basiert also auf dem ständigen Wechselspiel zwischen körperlichen Reaktionen und den Einflüssen aus der Umwelt. Ein Wutanfall wäre demnach nicht einfach eine Reaktion im Gehirn des Kindes, sondern ebenfalls beeinflusst durch die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Umwelt, die bewertet wird. Die Bewertung findet dabei oft unbewusst statt. Wir können durch feinfühlige Begleitung üben, Situationen anders zu bewerten. Wir können durch ruhige Bauchatmung und eine tiefe, beruhigende Stimme die körperlichen Reaktionen beeinflussen.

5 Tipps, wie Du deine innere Haltung auf Gelassenheit ausrichtest!

Wahrscheinlich glüht jetzt Dein Kopf nach dem Ausflug in die Strukturen des Gehirns. Daher hast Du dir jetzt wirklich ein paar konkrete Tipps verdient. Ich habe so viele Tipps aufgeschrieben, dass Du diese und nächste Woche einige konkrete Vorschläge zum Ausprobieren an die Hand bekommst. Nicht immer passt alles für jede Familie. Nimm dir das raus, was für Dich gut klingt und hilfreich ist!

Tipp 1: Reflektiere die gesamte Situation: Was ist der „gute Grund“ der starken Gefühle?

Es klingt vielleicht etwas trivial, aber schwierige Situationen können vielfältige Ursachen haben. Überlege in solchen Momenten doch einfach mal, was ihr vor der Situation zusammen erlebt habt. Wie geht es euch? In welcher Lebensphase steckt Dein Kind oder deine gesamte Familie gerade? Gibt es für jeden einzelnen genügend Pause und Momente der Entspannung? Es kann hilfreich sein, sich einmal die gesamte Umgebung und aktuelle Situation bewusst zu machen.

Tipp 2: Dein Kind möchte Dich nicht provozieren!

Kein Kind in diesem Alter möchte seine Bezugspersonen willentlich und wissentlich provozieren. Es ist nicht mit Absicht wütend! Dazu ist kein Kind im Alter bis ca. 4,5 - 5 Jahre in der Lage. Auch wenn Du manchmal das Gefühl hast und dein Kind nach einer schwierigen Situation dann vielleicht auch noch vermeintlich „provozierend“ lächelt, es ist eher hilflos. Dieses Lächeln ist eine Übersprungshandlung, eine aus der Evolution übrig gebliebene Beschwichtigungsgeste, weil es dem Kind eigentlich unangenehm ist, Dich so verärgert zu haben.

Tipp 3: Es ist nicht deine Wut, sondern die deines Kindes!

Mach Dir dabei auch bewusst, dass es nicht Deine Wut ist. Es ist das Gefühl deines Kindes und es hilft ihm nicht, wenn auch Du wütend und hilflos wirst und von deinen Gefühlen überwältigt wirst. Dann schaukelt ihr euch gegenseitig hoch. Versuche innerlich etwas Abstand zu nehmen (auch wenn man natürlich mitfühlt), tief durchzuatmen und dann dein Kind zu begleiten.

Tipp 4: Sei da, wenn Dein Kind Dich braucht

Vielleicht hast Du schon die Erfahrung gemacht, dass Dein Kind Dich bei Wutanfällen wegstößt und ablehnend auf Deine Zuwendung reagiert. Manche Kinder möchten einfach nicht berührt werden, andere möchten ganz fest gehalten werden. Das ist legitim, dein Kind ist eine eigenständige Persönlichkeit und darf für sich entscheiden, was es braucht. Versuche dann in der Nähe zu bleiben und deinem Kind das Gefühl zu vermitteln, dass Du da bist, wenn es Dich braucht.

Tipp 5: Verbote und Regeln sollten nur existieren, wenn sie Sinn ergeben!

Falls Du das Gefühl hast, Du musst deinem Kind in schwierigen Situationen etwas verbieten, dann hinterfrage Dich, ob das wirklich so ist. Wenn die Regel oder das Verbot Sinn ergibt, kannst Du nach überstandenem Ausbruch deinem Kind die Situation erklären und häufig kann es dann verstehen. Ist es ein Verbot, das keinen Sinn ergibt, ist es häufig schwierig für Kinder, zu verstehen und dann zu kooperieren.

Ich hoffe, ich konnte Dir mit diesen Tipps und dem Artikel einen ersten Einblick geben, was hinter der Autonomieentwicklung steckt. Wenn Du für Dich die richtige innere Haltung entwickelst und Du auf Dein Kind feinfühlig eingehst und es begleitest, dann seid ihr schon gut gewappnet. Und auch wenn Du selbst wütend wirst und vielleicht sogar schreist: Auch dein Gehirn arbeitet so wie oben beschrieben und lässt sich nicht in jeder Emotion kontrollieren und regulieren. Fühle dich deswegen nicht schuldig, denn es ist menschlich. Wichtig ist dann, die Situation hinterher zu besprechen und sich zu entschuldigen, falls Du unfair warst.

Wie geht es Dir mit diesem neuen Wissen? Hast Du Fragen?

Deine Annika

Know-Wow

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Hi, ich bin Annika, Expertin für frühkindliche Entwicklung und Spezialistin für die Beratung von Familien. Ich zeige dir, wie du dein Kind friedlich und bedürfnisorientiert durch die Autonomieentwicklung ("Trotzphase") begleitest.

Bedürfnisorientiert. Selbstbestimmt. Ganzheitlich.

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